1. September 2022 | Ausgabe 22

Der Jugendforscher

Klaus Hurrelmann erforscht seit Jahrzehnten die Jugend in Deutschland. Noch nie ist ihm eine so verantwortungsbewusste Jugend begegnet. Seine aktuelle Studie zeigt aber auch: Im konkreten Verhalten ist die „Jugend in Deutschland“ weniger umweltbewusst, als das dominante Auftreten von Fridays for Future suggeriert.

TEXT Clara Bergmann | ILLUSTRATION Linda Lee Wölfel
Bildercollage: Portrait eines Mannes mit dem Zitat:
Herr Hurrelmann, Sie erforschen seit den 80er Jahren Jugendliche in Deutschland. Was für eine Generation haben wir gerade vor uns?
Mit der Jahrtausendwende hat sich in Deutschland auch die Jugend verwandelt: Die Jugend von heute zeigt sich in ihrem Denken und Handeln sehr gesellschaftlich verantwortlich. Das ist für einen Forscher hoch spannend, weil es das so noch nie gab.
 
Woher kommt der Wandel?
Ich selbst erkläre mir das so, dass diese neue Generation – anders als die meisten anderen Generationen vor ihr – keine existenziellen Bedrohungen empfindet. Die Jugendlichen müssen nicht zittern, dass sie keinen Job finden und dadurch später von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht sind – unter anderem, weil gerade die Babyboomer:innen abtreten und viele Stellen frei werden. Wenn die wirtschaftlichen Perspektiven gut sind, öffnet sich der Blick für Themen außerhalb der eigenen Welt.


Die Ursache für die Politisierung der Jugend ist also der Wohlstand – und nicht die Krise?
Genau. Wenn wir genau hinschauen, wer von den Jugendlichen sich aktiv in der Umweltbewegung einsetzt, dann sehen wir fast ausschließlich sehr gut gebildete Menschen. Sie kommen aus stabilen Elternhäusern, sind wirtschaftlich abgesichert und in die Gesellschaft gut integriert. Es sind au ällig viele junge Frauen dabei und ganz wenige junge Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Wer sich in seiner Familie und in der Gesellschaft sicher verankert fühlt, kann schlechte Noten oder Verweise leichter verkraften, die man vielleicht mal einfängt, weil man an einer Demonstration teilgenommen hat. Wer selbst in einer Notlage ist, kann sich nicht für eine abstrakte Notlage wie Klimawandel einsetzen. Das war in der Geschichte der Aufstände fast immer so – es sei denn, es ging um die Befreiung von Armut und Unterdrückung.

Wie sieht der:die typische Klimaheld:in aus?
Das ist tatsächlich Greta Thunberg. Sie ist nicht nur die Gründerin von Fridays for Future, sondern auch der Prototyp. Der:Die typische Aktivist:in ist also eine 14- oder 15-jährige Jugendliche. Ihre Eltern sind Akademiker:innen – vielleicht Lehrer:innen, Wissenschaftler:innen oder Journalist:innen –, relativ gut situiert und selbst politisch engagiert oder zumindest interessiert. Das Mädchen hat gute Noten und damit den gedanklichen Raum, sich mit der Lebenssituation von ihr und der Welt ringsum aus einanderzusetzen. Sie erlebt durch ihren Aktivismus, dass sie an einem wirklich wichtigen Thema dran ist, und hat das Gefühl, dass sie etwas bewirken kann. Sie arbeitet sich weiter in das Thema ein und entwickelt dabei zunehmend eine Angst, bedroht zu sein. Sie realisiert: Wenn sie 20 ist, drohen Hitzewellen in der eigenen Stadt, vielleicht auch Tornados oder Überflu tungen. Aus dieser Erkenntnis und der, dass die Politik nichts dagegen tut, entsteht eine Dringlichkeit.

Sind Kinder besonders empfänglich für Themen wie Natur und Umwelt?
In allen unseren Kinder- und Jugendstudien gibt es immer wieder fünf Themen, die junge Menschen seit den 80er-Jahren bewegen: Klimawandel ist dabei seit etwa 15 Jahren immer ganz weit oben. Als die Weltwirtschaftskrise auch in Deutschland eine hohe Jugendarbeitslosigkeit verursachte, war das das Thema Nummer eins. Auch die Gefahr von Krieg und Terror steht mit auf dieser Liste. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und interessanterweise seit einiger Zeit auch wirtschaftliche Absicherung im Alter beschäftigen junge Menschen. Je nach Zeitverlauf erscheint mal das eine, mal das andere Thema wichtiger. Wenn der Krieg in der Ukraine zum Beispiel andauert und sich weiter zu uns durchfrisst, wird das wohl auf der Agenda weiter nach oben rücken. Aber das ist nur die Durchschnittsmeinung. Das bedeutet nicht, dass sich einzelne Jugendliche nicht weiter um die Bewältigung der Klimakrise kümmern werden.

In Ihrer Studie „Jugend in Deutschland“ aus dem Jahr 2021 hat sich gezeigt, dass Jugendliche gar nicht so ökologisch handeln, wie man durch die Klimabewegung glauben möchte.
Wir haben im Kern etwa 5 bis 10 Prozent der Jugendlichen, die sich für Klimagerechtigkeit bewusst aktiv einsetzen. Dazu kommen dann noch einmal etwa 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen, die damit sympathisieren und gelegentlich mitmachen. Insgesamt ist die Umweltorientierung also sehr hoch. Wenn es aber darum geht, das eigene Leben zu gestalten, dann sind die Jugendlichen natürlich auch darauf angewiesen, was ihre Eltern entscheiden. Ich kann das als Kind ein Stück weit beeinflussen, aber am Ende sitze ich da schon am kürzeren Hebel und muss mich arrangieren. Ich muss mich fragen, ob ich mit in den Urlaub fahre oder nicht oder mit dem Zug hinterherfahre.

Es sind letztlich nur diese 5 bis 10 Prozent, die wirklich ihre Mobilität, ihren Energieverbrauch und ihr Ess verhalten verändern wollen. Was ist mit den anderen?
Insgesamt muss festgehalten werden: Es fällt der großen Mehrheit der jungen Menschen sehr schwer, ihre Verhaltensweisen von sich aus, also aktiv aus eigenem individuellem Antrieb, nachhaltig umzustellen. Die Engagierten sind eine Minderheit und bilden nicht die ganze Generation ab. Das wissen die Vordenker von Fridays for Future aber auch und sagen: Individuelle Verhaltensänderungen sind nur ein Schritt. Wenn sich wirklich etwas verändern soll, braucht es gesellschaftliche Regeln, Gesetze und wirtschaftliche Strategien. Es darf keine moralische Frage sein, ob ich vegetarisch esse oder mit dem Flugzeug fliege – weder für Jugendliche noch für Erwachsene.

Wenn man sich die Zahlen Ihrer Studie genauer anschaut, sieht man, dass Müllvermeidung und Mülltrennung die höchste Zustimmung bekommen, konsequent im Alltag eingebracht zu werden. Warum?
Weil das keinen Einschnitt in mein Alltagsleben bedeutet. Das kann ich ganz klar sagen: Es ist doch noch innerhalb meiner Komfortzone, wenn ich meinen Müll in Box 1, 2, 3 oder 4 werfe. Der Aufwand ist gering und ich tue gleichzeitig etwas für die Umwelt. Die anderen Punkte, die zu einem umweltgerechten Leben dazugehören, sind da schon schwieriger.

„Viele Eltern und Großeltern haben ihren Lebensstil verändert und sind sensibler geworden, weil die Kinder darauf bestanden haben.“


Müssten dann auch Mobilität, Essen und Energieverbrauch schlichtweg in der Handhabe vereinfacht werden?
Ja. Von der Weltgesundheitsorganisation stammt ein schöner Satz – allerdings bezogen auf Gesundheit: Make the healthier choice the easier choice. Wenn ein umweltbewusstes Verhalten einfacher im Alltag umzusetzen wäre als ein umweltschädigendes, dann wähle ich natürlich das. Da ist die Einführung des Flaschenpfands und Dosenpfands ein super Beispiel. Ich muss meine Komfortzone nicht verlassen, wenn ich eine Flasche austrinke und zurückgebe – oder auch auf die Straße stelle für Menschen, die vom Einsammeln leben. Solche Lösungen zu finden, das wär’s natürlich.

Was fällt den Jugendlichen am schwersten?
Wenn ich auf dem Land wohne und als 16- oder 17-Jähriger auf eine Party möchte, der Bus aber nur dreimal am Tag fährt, ist der Verzicht auf ein Auto eine starke Einschränkung meiner Lebensqualität. Wenn ich meine Lebensfreude einschränken muss, geht’s ans Eingemachte.

Wie überzeugt man Kinder und Jugendliche davon, sich am Ende doch klimabewusst zu verhalten?
Ich würde sagen, die Schule ist ein ganz wichtiger und sehr sinnvoller Raum, in dem ganz viel passieren kann. Ich hab schon darüber gesprochen, dass die privilegierten Kinder in ihren eigenen Familien sehr viel bewegen und mit den Eltern zusammen was machen. Viele Eltern und Großeltern haben ihren Lebensstil verändert und sind sensibler geworden, weil die Kinder darauf bestanden haben. Auch in der Schule müsste das zu einem durchgehenden Thema werden. Schülerinnen und Schüler beginnen bereits jetzt darüber nachzudenken, was in der Kantine gegessen wird, was dort an Abfall anfällt und wie er entsorgt wird. Es kann auch im Mathematik-, Biologie- und Geografieunterricht konkret berechnet werden, was in der Schule an Müll und CO  erzeugt wird. Dabei entstünde dann nicht nur bei den 10 Prozent der Engagierten ein Bewusstsein, sondern auch bei den anderen. Sie könnten mit den Lehrkräften zusammen beraten, wie man denn die Schule umgestalten kann. Wie muss vielleicht auch der Unterricht anders aussehen, welche Themen behandeln wir, wie können wir einen Garten gestalten? Alles, was mit Beteiligung der jungen Leute geschieht, führt zu Veränderung.

Die kindlichen Klimaaktivist:innen sagen häufig, dass sie das alles eigentlich gar nicht machen wollen. Bürden wir der nachfolgenden Generation da zu viel auf?
Greta Thunberg hat in ihren Vorträgen immer wieder das Argument ausgespielt, dass sich die Erwachsenen wie verantwortungslose Kinder verhalten und die Kinder wie verantwortungsvolle Erwachsene. Gleichzeitig ist Greta mit ihrer besonderen Begabung als Asperger-Persönlichkeit ein Beispiel für einen Menschen, der ohnehin eine andere Kindheit gehabt hätte. Wie hätte diese ausgesehen? Das kann man jetzt schwer sagen. Aber ich denke, dass man bei jeder aktivistischen Einzelpersönlichkeit immer genauer hinschauen muss. Es ist vergleichbar mit jungen Menschen, die Hochleistungssport machen oder eine Karriere in der Musik oder im Film anstreben – da sieht die Kindheit halt anders aus. Im Rückblick sind diese Menschen mit sich im Reinen. Insofern hätte ich da keine große Sorge, dass diesen aktivistischen Kindern und Jugendlichen ihre Kindheit verloren geht.

„Wenn sich wirklich etwas verändern soll, braucht es gesellschaftliche Regeln, Gesetze und wirtschaftliche Strategien.“


Die Kinder, die wir in dieser Titelgeschichte vorstellen, haben oft Agent:innen, die ihre Auftritte koordinieren, oder auch Sponsoren und Werbeverträge. Sind diese grünen kindlichen Ikonen manchmal auch moralische Feigenblätter?
Ja sicher, das kann passieren, dass manche Kinder vereinnahmt werden. Aber auch da würde ich sagen: keine falschen Zuschreibungen. Das sind sehr kluge junge Menschen, die wissen, was sie tun. Wenn sie als Feigenblatt eingesetzt werden, dann nutzen sie das vielleicht gewinnbringend zum materiellen Gewinn.

Vielleicht profitieren sie ja auch davon und man muss ihnen da keine Opferrolle zuweisen.
Damit wäre ich tatsächlich sehr vorsichtig. Das ist meist nicht der Fall. Fridays for Future und auch Greta haben es geschafft, das eigentlich sehr alte Thema Klimawandel wieder zu einem riesigen Thema von öffentlichem Interesse zu machen. Natürlich ist es jetzt durch Corona und den Krieg ein kleines bisschen zurückgedrängt worden, aber erkennbar immer noch sehr präsent da. Und das haben überwiegend diese jungen Leute geschafft. Also wirklich, das ist doch ganz enorm.

Greta polarisiert enorm. Sie wird glorifiziert und auch verdammt. Wie können das Kinder und junge Frauen eigentlich aushalten?
Diese Kinder und Jugendlichen agieren als Politiker:innen. Bereits nach kurzer Zeit ist ihnen das auch bewusst. Greta ist eine Aktivistin und sie hat eine politische Rolle. Sie und auch die anderen Vorkämpfer:innen kritisieren öffentlich Andersdenkende. Sie verhalten sich wie politische Menschen. Dabei sind solche Auseinandersetzungen unvermeidlich und gehören bei unserem demokratischen Prozess dann mit dazu. Und wenn sie in dieser Rolle nicht sein wollen, dann müssen sie aus dieser Rolle austreten.

Wie wird es mit den grünen Rebell:innen weitergehen, wenn sie erwachsen werden?
Ich sehe mit Interesse, dass die ersten Aktivist:innen aus der Bewegung jetzt überlegen, einer Partei beizutreten. Das ist in erster Linie die Partei der Grünen, die davon besonders profitiert. Aber auch die SPD ist da thematisch dicht dran und verknüpft das Thema mit sozialer Ungleichheit. Das könnte eine sehr wertvolle Entwicklung sein, dass das Bewegungsengagement in eine langfristige politische Arbeit übertragen wird. Aktivist:innen, da sind viele Frauen darunter, sind ja politische Talente, die sich auch geschickt politisch verhalten und öffentlichkeitswirksam sind. Und die sind für die politischen Parteien von riesiger Bedeutung. Parteien sind in unserer Demokratie die entscheidenden Transmissionsriemen zwischen der Bevölkerung und der politischen Gestaltung. Das geht bei uns nicht anders.

Bildercollage: Portrait von Klaus Hurrelmann

Klaus Hurrelmann ist der prominenteste Jugendforscher Deutschlands. Er ist Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin und führt seit den 80er-Jahren vergleichende Studien zu Einstellungen, Wertorientierung und Verhaltensweisen von Jugendlichen durch. Besonders bekannt war seine Arbeit im Wissenschaftler:innenteam der Shell-Jugendstudie, die er während seiner Professur an der Universität Bielefeld im Auftrag des Mineralölkonzerns im Abstand von vier Jahren durchgeführt hat.

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