19. Mai 2017 | Ausgabe 13
Herr Graebel hat alle Tassen im Schrank
Aufgeregt und auf eine Tasse Kaffee verabredet, stehe ich am Berliner Paul-Lincke-Ufer. An der Mauer eines Gründerzeithauses hängen viele kleine Firmenschilder, ich lehne im Dunkel der Toreinfahrt und frage mich, in welche Richtung der Landwehrkanal wohl fließt, als meine Kaffeeverabredung die Straße entlangkommt: Julian Lechner, 31 Jahre, Produktdesigner.
Er lacht. Ein fröhlicher Mensch, denke ich. „Ich will dir erstmal zeigen, wie wir hier so arbeiten“, sagt er. Ein fröhlicher, fleißiger Mensch. Wir gehen in das Nachbargebäude, steigen die Treppen hinauf. Je höher wir kommen, desto intensiver duftet es nach Kaffee. Im dritten Stock wird das hergestellt, was einem kleinen Wunder gleicht: Kaffeetassen aus Kaffeeresten. „Die besten Kaffeetassen der Welt!“, schallt es mir entgegen, als ich mich umsehe. Im Auftrag von Julian Lechners Firma „Kaffeeform“ sammeln fünf Menschen mit Behinderung, die in der Tagesbetreuung des Sozialunternehmens Mosaik arbeiten, in den umliegenden Kiezcafés das ein, was nach der Zubereitung jeder Soja-Mandel-Latte und jedes profanen Espresso übrig bleibt: Kaffeesatz – rund 20 Kilo täglich. Am Anfang der Produktionsstrecke wird der Kaffeesatz auf Blechen getrocknet und anschließend in Drei-Kilo-Beuteln verschweißt. Zweimal im Jahr kommen mehrere Tonnen des Satzes nach Baden-Württemberg, wo sie zusammen mit Sägespänen aus Buchenholz und einem Biopolymer zu Granulatkügelchen weiterverarbeitet werden, die immerhin noch zu 40 Prozent aus Kaffeesatz bestehen. In Köln schließlich wird das Granulat unter Hitze und Druck zu Kaffee-, Espresso- und passenden Untertassen geformt, die dann, zurück in Berlin am Paul-Lincke-Ufer, in Kaffeebeuteln einzeln verpackt und zum Kunden geschickt werden.
„Was ist das denn für ein Biopolymer, das dem pulverigen Kaffee dazu verhilft, zu seiner eigenen Tasse zu werden?“, frage ich. Julian lacht und schweigt. Die Kunst der Kaffeetassenalchemie scheint eine Geheimwissenschaft zu sein – weitaus geheimer als die der Kaffeesatzleserei. An Julians Art merkt man das nicht – er steckt seine Nase lieber in Kaffeesatz, als sie hochzuhalten.
Statt ihn zu nerven, frage ich die versammelten Kaffeesammler und -trockner, ob sie mir verraten wollen, wie der Kaffeesatz nach dem Trocknen behandelt wird: „Kaffee geht weg, Kaffeetassen kommen her – so einfach ist das“, sagt einer. Julian lacht. Ganz so einfach war es für Julian Lechner allerdings nicht. Er studierte Produktdesign in Bozen, Südtirol. Im Café am Campus-Eingang habe er wie alle Studierenden täglich Espresso getrunken – das Sieb der Espressomaschine sei minütlich leergeklopft worden. „Francesco, was passiert mit dem Kaffeesatz?“, habe er den Barista gefragt. Und der antwortete: „Der ist fertig und kommt in den Müll.“ Wie das geräuschvolle Ausklopfen des Kaffeesiebs hämmerte die Frage in Julian Lechners Kopf: Was, wenn der Satz Verwendung fände, zurückkommen könnte? Ließe sich gar aus Kaffee eine Kaffeetasse herstellen?
Hier wird das hergestellt,
was einem kleinen Wunder gleicht:
Kaffeetassen aus Kaffeeresten.
In seiner Abschlussarbeit befasste er sich mit der Theorie einer Tasse aus Kaffeesatz: Wie muss eine Tasse gestaltet sein, damit sie auch als solche genutzt wird – und nicht nur als skurriles Objekt ihres Materials oder ihrer Optik wegen gekauft wird, wie anno dazumal die dafür erfundenen Sammeltassen? Er entwickelte einen ersten Prototyp – als Anschauungsmaterial zu einer Abschlussarbeit. Als Bindemittel nutzte er zunächst Zucker, nach dem zweiten Kaffee hatte sich die Tasse aufgelöst. Nach seinem Studium arbeitete er als Produktdesigner in Agenturen – aber die Kaffeetasse aus Kaffeesatz ließ ihn nicht los. Er überzeugte mit seiner Idee – oder seinem Lachen – befreundete Biochemiker und Ingenieure, ihn bei der Suche nach einem Bindemittel zu unterstützen, das Kaffeesatz zu einer formstabilen Masse macht. Haltbar, lebensmittelecht und spülmaschinenfest. Vier Jahre später, 2014, hatten sie das Rezept gefunden. Ein Jahr später kam die erste Espressotasse auf den Markt.
Als ich eine Tasse in der Hand halte, duftet sie noch leicht nach Kaffee, ihre Marmorierung erinnert an Holz. Und: Sie ist erstaunlich leicht. „Die Kaffeeform-Tasse wiegt viermal weniger als eine Porzellan-Tasse“, erklärt Julian. Das Schwerste sei der Kaffee, den man aus ihr trinkt. Um sie kaputtzukriegen, bräuchte es schon den Elefanten aus dem Porzellanladen. Denn auch in Sachen Stabilität ist sie nachhaltiger als das Standardgeschirr in den Cafés dieser Welt. Zwei bis vier pro Tag fallen dort im Schnitt vom Tablett oder aus den Händen. „Die sind fertig“, würde Barista Francesco sagen.
Die Kunst
der Kaffeetassenalchemie
scheint eine Geheimwissenschaft
zu sein – weitaus geheimer als
die der Kaffeesatzleserei.
Kein Wunder also, dass neben Endverbrauchern mittlerweile auch immer mehr Kaffeehaus-Besitzer auf Kaffeeform-Geschirr umstellen. Natürlich diejenigen, in denen das Tassenmaterial Monate vorher aus dem Espressosieb geklopft wurde. Aber auch international. Als wir wieder rausgehen, schauen wir in die Toreinfahrt und in die Zukunft. Nach Kaffee-, Espresso- und Untertasse werden wohl – mit den gleichen Vorzügen ausgestattet wie die kleinen Geschwister – Kaffeetablett und Coffee-to-go-Becher aus Kaffeesatz am Paul-Lincke-Ufer vom Licht der Welt beleuchtet werden. „Wenn alles gut geht“, sagt Julian zwar, aber er kann mich nicht mehr davon überzeugen, dass er daran zweifelt.
Wie gut die bisherigen Kaffeeform-Produkte gehen, zeigt ein Blick auf die Bezugsquellen. Neben seinem eigenen Onlineshop gibt es eine vielsagende Händlerschaft: sechs davon in Berlin, drei in Oslo, einer in Bielefeld, Darmstadt, London, Paris, Amsterdam, Zürich und: Dessau. Letzterer ist der Museumsshop des Bauhauses. Für andere Firmen wäre das ein Grund zum Prahlen, bei Julian Lechner erfahre ich es nur auf konkrete Nachfrage. Sympathisch! Mit dem Mann möchte man sich gern auf eine Tasse Kaffee verabreden.