Nur: Wie fermentiert man eigentlich? Das Grundprinzip klingt einfach: Essen rein ins Glas, Wasser drauf, Salz und Gewürze mischen, Deckel drauf, zwei Tage stehen lassen, Fermentation fertig. Viele Gewürzkombinationen seien möglich. Die anderen Kursteilnehmer hatten Reste von Blumenkohl, Möhren, Süßkartoffeln dabei. Sie verfeinerten Karotten mit Holunderbeeren und Salz, Fenchel mit Estragon, Pfeffer, Essig und Salz. Für meine Bolognese empfahl mir Hannes schlicht Oregano und Majoran. Und kein Salz, da dies in meinem Fall schon genügend vorhanden sei. Dann setzte ich noch zwei Gläser an: Eines mit einem kleinen Stück auf dem Hinweg gekaufter Pizza Hawaii. Und eines mit Apfelstücken und Pilzen. Diese würzte ich noch mit ein paar Kräutern und Nelken sowie Kokosblütenzucker.
Fermentieren, das heißt im Grunde Essen von der Luft ausschließen. Der „Hauptplayer“ ist die Milchsäure. Und diese ist überall: auf unserer Haut, in der Luft – und auch auf allen Lebensmitteln. Milchsäure vermehrt sich bei Sauerstoffarmut und die Bakterien ernähren sich dann von Kohlenhydraten und Zucker. Außerdem wird während des Fermentationsprozesses die für den Menschen schwer verdauliche Zellulose abgebaut, wodurch die Nahrung besser aufgenommen werden kann. Die Gemüseschnipsel und meine Bolognese in den Einmachgläsern sehen in etwa so aus wie die Urzeitwesen in Formaldehyd im Naturkundemuseum. Denn alles muss unter Wasser sein. Was über der Wasseroberfläche im Einmachglas ist, schimmelt. Schon nach zwei Tagen beginnt die Fermentation und man kann aufmachen und kosten. Nach 30 Tagen ist die Fermentation vollständig abgeschlossen.
Das Einmachglas stand drei Tage bei mir in der Küche. Da mein Sohn Angst davor hatte, musste ich es oben ins Regal stellen, wo er es nicht mehr sehen konnte. Auch ich hatte Angst davor. Weitere zwei Tage fand ich Ausreden. Doch dann, am vierten Tag, öffnete ich mir einen Chianti und dann auch das Einmachglas. Ich erwartete Gestank, eine Explosion, aber es roch wie kalte Spaghetti-Bolognese vom Vortag. Als hätte es die letzten vier Tage gar nicht gegeben. Eine Zeitmaschine! Die Pasta war etwas glibberig vom Wasser und ich hatte wohl etwas mit dem Majoran übertrieben. Ich möchte nicht sagen, dass es unbedingt gut aussah und gut schmeckte. Eine ganze Mahlzeit davon würde ich nicht essen können. Aber vielleicht andere?
Also der ultimative Test: Für den Abend hatte ich eine Freundin aus der Nachbarschaft zum Essen bei mir eingeladen. Ich fragte, ob sie mir helfen würde, das Essen vom Vortag und den Wodka zu vernichten. Ich erwärmte die Bolo und servierte sie auf einem Teller. „Uh, da hast du aber nicht mit den Gewürzen gespart“, sagte die Nachbarin und zuckte zusammen. Sie probierte drei Mal und sagte dann, dass sie keinen Hunger mehr habe.
Der Wodka half etwas. Ich offenbarte ihr, dass sie hier das Wunder der Fermentation auf dem Teller habe. Sie guckte ungerührt – und ich holte zu einer längeren Erklärung aus: Darüber, dass Fermentieren allemal besser sei als Essensreste wegzuschmeißen. Dass Fermentieren schmackhafter sei, wenn man nicht alte Bolognese, sondern ungekochte Lebensmittel wie Möhren oder Äpfel oder Blumenkohlstiele nimmt. Dass Fermentieren eine der großen Erfindungen der Menschheitsgeschichte war, wie Feuer, Rad, Tiefkühltruhe, Internet. „Humba, ich habe fermentiert!“, rief ich euphorisch.
Dann holte ich das Glas mit den Apfel- und Pilzstücken als „Nachtisch“. Die Gewürze waren richtig in den Apfel eingesogen und schmeckten zehn Mal intensiver. Die Pilze hingegen hatten sich aufgelöst und im Glas verteilt. Die Apfelstücke und zwei weitere Wodka stimmten meine Nachbarin wieder zufrieden. Mit saurem Gaumen fragte sie, ob wir uns jetzt eine Pizza warmmachen könnten, und ich trabte zum Kühlschrank. Das Stück fermentierte Pizza Hawaii wollte ich ihr nicht auch noch zumuten. Sie würde zusammen mit der Bolo und den Pilzstücken also doch im Biomüll landen. Vielleicht hätte ich das alles doch lieber frittieren sollen?