23. Mai 2018 | Ausgabe 15

Wir müssen uns wieder mehr mit der Natur verbinden

Die Köchin Sarah Wiener beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, was gutes Essen ist und wo es herkommt. Im Interview erzählt sie, warum sie auch in Zukunft ihre Nahrung vom Ökobauern holen möchte und nicht aus dem Labor.

INTERVIEW Louisa Lagé | FOTOS Lena Giovanazzi

Eine Frau – Sarah Wiener – hält mit einer Hand ein großes Stück Bienenwabe in die Kamera und leckt vom Finger der anderen Hand lachend den Honig ab.

Frau Wiener, Sie haben in Brandenburg einen Bauernhof, auf dem Sie Tiere artgerecht halten und auch selbst imkern. Warum sind Bienen so wichtig?
Bienen sind faszinierende Geschöpfe. Sie sind viel mehr als Bestäuber und Honigproduzenten, sondern von der Geburt bis zum Tod für uns und die Welt nützlich. Selbst wenn die Biene stirbt, dann düngt sie noch den Boden. Das ist eine Leistung, an die die meisten Menschen gar nicht denken. Leider spritzen wir heute so viele Pestizide, dass die Bienen extrem viele Giftstoffe aufnehmen und neurologische Schäden davontragen. Dennoch vollbringen sie das Wunder, das meiste Gift im eigenen Körper zu behalten, um nicht ihre Larven zu vergiften. Es muss einen doch rühren, wenn man so selbstlose und schöne Wesen sieht. Wir könnten so viel von den Bienen lernen: wie sie sich organisieren, wie sie kommunizieren, wie sie gemeinschaftlich agieren. Aber wir als Zivilisation fragen immer nur: Was wollen wir von der Biene?

In Ihrer Antwort steckt viel Wut über die industrielle Nahrungsmittelproduktion. Kommt man dagegen überhaupt an?
Es braucht einen gesellschaftlichen, öffentlichen Diskurs, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Heute reden wir über Vergiftungen im Wasser, Pestizide und multiresistente Keime und morgen bietet uns die Industrie eine Lösung dafür an: bessere Medikamente, genauere Genmanipulationen oder gleich grundlegend andere Nahrungsaufnahme. Und die klingt dann so: „Hey, wir wollen uns doch alle optimieren und gesund sein. Ich mache dir einen Cocktail mit Mikronährstoffen, nach deinen personalisierten Vorgaben. Du gibst mir deine ganzen Daten per Chip oder Armband und ich messe deinen Puls, deine Schlafdauer und deine Herzfrequenz, kenne dein Alter, deine Erkrankungen und Schwächen und dann erinnere ich dich per App an deine Zusatzpräparate. Piep, piep, piep, in 20 Minuten isst du bitte eine rote Kapsel.“ Damit könnten wir auch wieder die minderwertige Nahrung aus dem Supermarkt bedenkenlos essen, weil wir ja künstlich mit dem Wichtigsten versorgt werden. Aber leider nur die Reichen mit einem Kapselabo. Ist ja wohl klar, dass dieses Geschäftsmodell Milliarden verspricht. Nestlé nennt diesen Mikrostoffspender übrigens „Iron Man“.

Ist das die Zukunft?
Das ist die Zukunft und ich sage das, weil der ehemalige Nestlé-Chef das in seinem Buch so beschrieben hat. Und dazu hat er noch geschrieben: „Sie glauben vielleicht, das ist Science-Fiction, aber ich sage Ihnen, das wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren Realität. Und wieso? Weil wir weltweit 20 Nestlé-Science-Labore haben, wo wir jedes Jahr 5.300 wissenschaftliche Mitarbeiter bezahlen mit 1,3 Milliarden Schweizer Franken, wo wir am menschlichen Genom forschen und an unserem Stoffwechsel.“ Wir geben die Kontrolle über unseren Körper an einen Großkonzern und Big Data ab. Und das soll die Lösung sein?!

Portrait einer lächelnden Frau – Sarah Wiener.
Sarah Wiener
ist die bekannteste deutsche Köchin. Geboren in Halle (Westfalen), aufgewachsen in Österreich und mit 17 Jahren nach Berlin gezogen, gründete sie hier auch das nach ihr benannte Unternehmen. Sarah Wiener schreibt Kochbücher, dreht Dok­u­men­tationen über den Ursprung von Lebensmitteln und betreibt Restaurants. Zudem setzt sie sich für gesunde und bewusste Ernährung ein. Sie beteiligt sich nicht nur an unzähligen Initiativen, sie hat auch die Sarah-Wiener-Stiftung gegründet, die Kindern das Kochen beibringt. Außerdem ist Sarah Wiener Bio-Botschafterin des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Sie lebt in Berlin und Angermünde, wo sie einen Bio-Bauernhof betreibt.


Und was glauben Sie, was die Lösung wäre?
Wir sollten natürliche und unverarbeitete Lebensmittel essen. Weil wir Teil der Natur sind. Wir sind Tiere. Unser Stoffwechsel hat sich in den Millionen von Jahren durch „trial and error“ angepasst. Und das war extrem erfolgreich. Schließlich leben wir ja noch. Klar, da gab es immer Schwund, Vergiftungen, Hungers­nöte, Seuchen. Das ist kein Tanz über die grüne Wiese gewesen, aber für die Menschheit in der Gesamtheit war es eine gute und erfolgreiche Strategie, sich an die Natur zu halten. Heute haben wir eine Ernährungssituation, die sich in den letzten 40 Jahren so stark geändert hat wie in den zwei Millionen Jahren zuvor nicht. Wir sind atavistische Wesen, wir sind langsam in Veränderungen im Vergleich zu unserer Lebenszeit, wir sind aber auch extrem robust. Wenn wir also Weichmacher oder Pestizide oder stark verarbeitete Nahrungsmittel essen, dann werden wir nicht gleich zugrunde gehen, aber es ist eine permanente Attacke auf unser Immunsystem, die es schwächt. Was man sieht: Dass in der Regel 50- bis 60-Jährige chronisch entzündliche Krankheiten haben – Krebs, Rheuma, Herzerkrankungen, Darmer­krankungen. Kinder haben neurologische Ausfälle und Allergien. Das ist nicht normal und das sollten wir nicht hinnehmen.

„Wir geben unseren Körper an Groß­konzerne ab.“


Jetzt reden Sie doch wieder darüber, was schlecht läuft. Was können wir denn als Einzelne tun?
Wir essen alle viel zu viel Fleisch und dann noch das falsche. Ich glaube, dass wir alle sehr, sehr viel weniger Fleisch essen sollten. Zwischen null tierischen Proteinen und einem gesunden Maß davon liegen viele Farbtöne. Die vegetarische Lebensweise mit seltenem Fleischgenuss ist wahrscheinlich eines der besten Zukunftsszenarien.

Angenommen, ich möchte ab morgen nachhaltiger und gesünder leben, ich besitze aber keinen Bauernhof. Worauf sollte ich beim Einkaufen achten?
Ich empfehle Ihnen, möglichst nur unverarbeitete Grundnahrungsmittel aus dem ökologischen Anbau zu sich zu nehmen. Möglichst wenig Eingepacktes und möglichst wenig Verarbeitetes. Wenn Sie ein Produkt kaufen, das ein Etikett hat, auf dem nur eine Zutat steht, von der Sie nicht wissen, was das ist, zum Beispiel eine E-Nummer oder eine modifizierte Stärke oder Säuren, die sie nicht kennen, dann frage ich: Warum sollten Sie das essen? Für mich ist mein Körper mein Tempel, das Einzige, was ich je besitzen werde.
 
Vielen Menschen sind Bio-Lebensmittel aber auch schlicht zu teuer.
Sie sind so günstig wie nichts anderes. Sie können Ihre Gesundheit und die der Umwelt nicht mit Millionen aufwiegen. Laut Ernährungsreport 2017 kochen 61 Prozent der Deutschen nicht mehr täglich, elf Prozent sogar nie. Viele wissen also gar nicht, was sie mit Grundnahrungs­mitteln anfangen sollen… Deswegen habe ich eine Stiftung gegründet, die Kindern kochen beibringt. Kochen ist eines der wenigen Gebiete, wo wir uns noch verwurzeln können mit dem Boden unter unseren Füßen und unserm Sein. Und deswegen ist es so befriedigend.
 
Was macht das Unternehmen Sarah Wiener, um die Welt ein bisschen besser zu machen?
Wir machen sehr vieles. In erster Linie wollen wir wissen, was wir unseren Gästen anbieten, und kochen selbst und mit Liebe.
 
Ist es denn möglich, beim Essen unschuldig zu bleiben?
Nein. Für niemanden. Wir sind alle schuldig, auch Veganer. Denn wir vernichten Leben, ob wir nun Tiere oder Pflanzen essen. Das ist unser Schicksal. Aber unser Schicksal ist nicht, Tiere zu quälen. Und unser Schicksal ist es auch nicht, die Zukunft massiv zu zerstören. Da rollt eine Welle auf uns zu. Und die Antwort kann nicht noch mehr Künstlichkeit oder noch mehr Distanz zur Natur sein. Die Antwort muss genau das Gegenteil sein. Wir müssen uns wieder mehr mit der Natur, mit Gemüse und Obst, mit Schönheit und der Vielfalt verbinden.
 
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Da gibt es eine Menge. Zum Beispiel Wasserschutz, Insekten- und Vogelschutz, Bodenschutz. Klimaschutz. Keine Subventionen mehr nach Größe, sondern stattdessen für Betriebe, die etwas für die Umwelt machen – und unsere kostbaren Lebensressourcen schützen oder gar befördern. Das würde dann auch heißen, dass bodengebundene Tierhaltung gefördert wird. Du darfst nur so viele Tiere halten, wie du selber von deinem Land auch füttern kannst. Eigentlich völlig logisch, dann weißt du auch, was du isst. Das würde aber auch heißen, dass wir gerechtere Bedingungen für ärmere Länder haben, dass ich ihnen nicht Zwangszölle aufdrücke oder Entwicklungshilfe streiche, wenn sie nicht nach meiner Pfeife tanzen. Das heißt, dass unser Essen keine synthetische Chemie und keine Pestizide enthalten darf. Muss man erst gesetzlich einfordern, dass man bitte kein Gift in seinem Essen möchte, und beweisen, dass seine Krankheiten, Unfruchtbarkeit und Allergien eindeutig aus diesem oder jenem Gift und Zusatzstoff herrühren?

 
„Wir sind alle aufgerufen, nicht wie Schlaftabletten daherzuwandeln.“

 
Das dürfte mit den Menschenrechten ja eigentlich abgeklärt sein.
Das sollte man meinen. So ist es in der Realität aber nicht. Selbst ein Herr Schmidt, ein Jurist, der in der letzten Legislaturperiode auf den Posten des Landwirtschaftsministers geschwappelt wurde, hatte die Chuzpe, des Volkes Willen zu ignorieren und für die Verlängerung des Einsatzes von Glyphosat zu stimmen, um dann zu sagen: nicht schlimm. Irgendwann wollen wir ja aussteigen.
 
Ist nur die Politik zum Handeln aufgefordert?
Wir alle sind dazu aufgerufen, nicht wie die Schlaftabletten daherzuwandeln und zu denken, wenn man 140 Zeichen postet oder ein „Like“ drückt, wenn einer mal einen Skandal aufdeckt oder händeringend Mitstreiter für wichtige Themen sucht, dass man dann wieder schlafen gehen kann. In meiner Jugend waren wir jedes Wochenende auf einer Demo. Wir haben uns angelegt, wir haben diskutiert, da sind die Fetzen geflogen, na gut, wir haben uns damals auch gegen die Polizei ab und an körperlich wehren müssen, bei Verhaftungen. Wehren, nicht angreifen!
 
Und das ist heute nicht mehr so?
Ich vermisse den Weckruf und das Engagement bei vielen Leuten – jungen und alten. Besonders die Denkleistung, sich der heutigen Komplexität unserer Probleme bewusst zu werden. Viele verweigern sich einerseits in Zorn oder Hilflosigkeit lieber komplett und entwickeln Essstörungen oder sie futtern zum Beispiel künstliche Surrogate und sagen: „Ich hab ja mit der Tierhaltung nichts zu tun. Was kümmert’s mich? Ich lebe ja vegan.“ Vegan ist aber erstmal auch nur ein Label, das wenig über die Qualität und Produktion von Lebensmitteln aussagt. Viele befördern damit eine verkürzte Sichtweise und stärken damit oft die gleiche Industrie, die aus Lebensmitteln Nahrungsmittel macht und diese grausamen Tierhaltungsbedingungen verursacht. Dieselbe Industrie stellt nämlich auch genau diese minderwertigen umweltzerstörenden Surrogate her. Und beim Essen denkt man dann ja noch: „Ich bin der Gutmensch, ich mache ja schon was.“ Dafür esse ich über 400 Zusatzstoffe, eine Unzahl von Pestizidrückständen und degenerativ unfruchtbares Getreide; Pflanzen, die die Natur abschaffen würde, wenn sie könnte, weil sie ohne uns nicht überlebensfähig sind. Ernährung ist kompliziert geworden. Wir sollten uns alle verbinden, um das Richtige durchzusetzen und gehört zu werden. Und zwar ohne Label und Schlagworte, sondern mit Inhalten.

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