Herr Dr. Schuler, laut Umfragen des Umweltbundesamtes war das Umweltbewusstsein in Deutschland noch nie so hoch wie heute. Gleichzeitig stehen wir mit jährlich 38,5 kg Kunststoffverpackungen pro Person auf dem bisherigen Höhepunkt unseres Plastikverbrauchs. Wie passt das zusammen?
In der Verhaltensforschung sehen wir immer wieder, dass eine umweltbewusste Einstellung nicht bedeutet, dass wir uns auch umweltbewusst verhalten. Die Frage, warum so viele Menschen berichten, etwas für den Umweltschutz zu tun, wir aber trotzdem nicht so große Fortschritte erzielen, beantworte ich so: Man muss sich das vorstellen wie ein moralisches Girokonto. Der Konsument denkt, ich klicke immer beim Online-Versand auf die klimaneutrale Zusatzoption und damit ist meine Pflicht für den Klimaschutz fürs Erste getan. Das geht aber nicht auf. Diese kleinen Verhaltensweisen für die Umwelt sind irrelevant, solange sie nicht kontinuierlich verfolgt werden. In meinen Studien begegnen mir auch immer wieder Menschen, die angeben, mit besserem Gewissen zu fliegen, nachdem sie ihr Haus umweltfreundlich saniert haben. Diese Menschen denken: „Ich habe schon etwas Gutes getan, deshalb kann ich mich jetzt wieder zurücklehnen.“
Warum fällt es uns so schwer, im Alltag konsequent zu handeln?
Die Schuld liegt nicht unbedingt beim Individuum. Aus der Perspektive der Forschung muss man sagen, dass es den Konsumenten sehr schwer gemacht wird, überhaupt eine Alternative auszuwählen. Ich kann in einem Unverpackt-Laden einkaufen, aber das ist wesentlich komplizierter, als in den Supermarkt um die Ecke zu gehen. Der Plastikkonsum würde drastisch abnehmen, wenn es auch im herkömmlichen Laden unverpackte Alternativen gäbe. Die gibt es schon jetzt, sie werden aber nicht als Standard präsentiert und werden deshalb seltener ausgewählt. Hier sehe ich großes Potenzial für das so genannte Nudging, einen kleinen Schubs in die richtige Richtung.
Wie funktioniert Nudging?
Im Alltag müssen wir täglich tausende Entscheidungen treffen. Nicht jede davon können wir lange überdenken, sonst würden wir zu nichts kommen. Wir laufen deshalb in einer Art Autopilot. Wir entscheiden nach Bauchgefühl und orientieren uns an standardisierten Entscheidungen. Das Nudging zielt genau auf dieses Entscheidungsszenario ab: Die Wahl der Optionen bleibt gleich, aber eine Standardoption, die gesellschaftlich am wünschenswertesten ist, wird an die erste Stelle gesetzt. Ein Beispiel hierfür finden wir in der Kantine: Wenn zuerst Gemüse angeboten wird, wählen die Menschen seltener Fleisch. Dadurch verändert sich das Angebot nicht, aber die Menschen nehmen automatisch die umweltfreundlichere Variante. Als Konsequenz wird dadurch dann auch weniger Fleisch in der Kantine angeboten.
Wie könnte Nudging in der Verpackungsindustrie aussehen?
Die plastikfreie Alternative müsste als Standard präsentiert werden. Mit den Plastiktüten hat das schon ganz gut funktioniert. Wenn im Supermarkt Plastiktüten nur auf Nachfrage herausgegeben werden, dann verändert das unser Standardverhalten auf Dauer. Dabei bleibt die Entscheidungsfreiheit gewahrt und trotzdem ändert eine Mehrheit ihr Verhalten.
Wo verläuft da die Grenze zur Manipulation?
Die Manipulation haben wir in jedem Supermarkt, aber da geht es selten darum, was das Beste für die Gesellschaft oder die Umwelt ist. Das ist ein absurder Vorwurf, den ich leider auch in der Wissenschaft immer wieder höre. Es geht nicht darum, die Menschen zu manipulieren. Die Menschen sollen sich bewusst für die bessere Alternative entscheiden. Und das funktioniert umso besser, je transparenter diese Vorgänge sind.
Was muss passieren, damit wir aus unseren Routinen herauskommen und uns bewusst für die umweltfreundlichere Alternative entscheiden?
Umfragen zeigen ja, dass Umwelt- und Klimaschutz einem großen Anteil der Bevölkerung wichtig ist. Trotzdem fliegen diese Menschen in den Urlaub, lassen ihre Lichter brennen und fahren mit dem Auto. Solche Menschen nimmt man eher mit, wenn man ihnen einfache Verhaltensweisen anbietet, die gleichzeitig auch attraktiv sind. Das gilt nicht nur bei Plastik, sondern generell bei Umweltschutzverhaltensweisen. Da ist es wichtig, dass die Verhaltenskosten dafür sehr niedrig sind, ich mich also nicht groß anstrengen muss, um etwas zu verändern. Das bedeutet, dass ich mich nicht aktiv gegen das Auto entscheide, sondern die Bahn nehme, weil das genauso schnell geht und vielleicht sogar günstiger ist. Im Supermarkt würde das heißen, dass die umweltfreundlich verpackten Produkte auch als solche gekennzeichnet sind – ohne dass ich mich als Konsument darüber aufwändig informieren muss.
Wann ist ein Nudge erfolgreich?
Man weiß in der Theorie, wie Nudges konstruiert werden. Aber am Ende muss man ganz praktisch ausprobieren, was gut funktioniert. Wir haben Nudges oft bei Bewegungsvorschlägen. Da werden zum Beispiel Schuhe auf den Boden geklebt, dass Menschen eher die Treppe nehmen anstelle des Aufzugs. Es lässt sich aber nie zu 100 Prozent vorhersagen, wofür sich die Menschen entscheiden. Wir sind eben keine Computer. Wenn ich schon eine fixe Einstellung habe, dann lasse ich mich darin ungern beeinflussen. Beim Essen zum Beispiel. Wenn ich mir schon ganz genau in den Kopf gesetzt habe, was ich heute essen möchte, dann funktioniert Nudging nicht mehr. Ein Nudge funktioniert besser, wenn die Wahl den Menschen in diesem Moment nicht so wichtig ist.