19. November 2021 | Ausgabe 21

Zero Waste ist ein Sinnangebot

Die Soziologin Raphaela Casata hat herausgefunden, dass Zero Waste mehr ist als die Entscheidung, abfallfrei zu leben. Es helfe auch dabei, sich in der als unsicher wahrgenommenen Welt zurechtzufinden.

INTERVIEW Clara Bergmann | ILLUSTRATION Aline Zalko

Kunstvoll und bunt gemaltes Portrait einer jungen in die kamera lächelnden Frau mit langen glatten Haaren und einer dunklen Bluse.

Frau Casata, warum beschäftigt sich eine Soziologin damit, dass manche Menschen keinen Müll mehr hinterlassen wollen?
Zero Waste ist für Soziologen auf sehr vielen Ebenen interessant. Es ist einerseits ein Lebensstil von Individuen, der bestimmten Regeln folgt. Es ist aber auch eine Gruppe, die über diese Regeln eine richtige Gemeinschaft bildet. Dort wird sich gemeinsam Wissen angeeignet, geteilt und auch weiterverbreitet. Und für mich persönlich entstand daraus die Forschungsfrage, ob Zero Waste noch weiter reicht: ob es auch ein eigenes Sinnangebot ist.

Wie würden Sie die Szene beschreiben?
In meiner Forschung habe ich mich mit Bloggerinnen auseinandergesetzt. Dieser sichtbare Teil der Zero-Waste-Bewegung ist sehr weiblich geprägt und auch gut ausgebildet. Was ich bei meinen Interviewpartnerinnen interessant fand, ist, dass Zero Waste nur ein Bestandteil ihres Weltinteresses ist. Sie interessieren sich für viele Facetten einer nachhaltigen Entwicklung, zum Beispiel soziale Ungleichheit, Geschlechtergerechtigkeit, Rassismus. Das sind also Menschen, die sich reflektierend mit ihrer sozial-ökologischen Umwelt auseinandersetzen.

In der Einleitung Ihrer Masterarbeit schreiben Sie, dass der Weltklimarat bekannt gegeben hat, dass die Menschheit es wohl nicht schaffen wird, das 1,5°-Ziel zu erreichen. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit ist besonders unter jungen Menschen groß. Ist Zero Waste eine Folge dieser Hilflosigkeit?
Nein, das glaube ich nicht. Viele der Zero-Waste-Anhängerinnen, die sich zum Beispiel auch bei Instagram inszenieren, wissen ganz genau, dass durch individuelle Konsumentscheidungen allein der Klimawandel nicht aufzuhalten ist. Aber bei Zero Waste geht es ja nicht nur darum, ökologisch nachhaltig zu leben. Es geht dabei auch um Identität.

Was bedeutet das?
In unserer heutigen Gesellschaft definieren wir über Konsum, wer wir sind – das ist gar nicht wertend gemeint. Vor einigen Jahrzehnten waren die wichtigen Orientierungsangebote noch Familie, Religion oder Klasse. Aber diese sind in den vergangenen Jahren immer brüchiger geworden. Die Menschen müssen sich aus vielen Sinnangeboten ihre eigene Identität sozusagen zusammenbasteln. Zero Waste ist da so ähnlich wie eine Musikszene: Es hilft dabei, sich zu verorten.

Sind diese selbst gewählten Konstrukte genauso tragfähig wie Religion und Familie?
Können sie sein, ja. Genau wie alle anderen selbst gewählten Sinnangebote. Man muss zunächst bestimmte Barrieren und Hürden überwinden, bis man dazugehört. Man verzichtet auf Plastik und umgibt sich stattdessen mit anderen Dingen wie Mehrwegbechern. Es gibt natürlich kein klares Regelwerk und auch keine direkten Sanktionen, wenn man doch mal Müll produziert. Eine Interviewpartnerin hat mir mal gesagt, dass Zero Waste eigentlich der falsche Ausdruck sei. Es müsste eigentlich ‚Less Waste‘ heißen, weil es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist, in dieser Gesellschaft ohne Müll zu leben.

Wenn Zero Waste eine Art Religionsersatz ist, gibt es darin dann auch kultische Objekte?
Das Einweckglas ist schon fast paradigmatisch für die Bewegung. Es zeigt sehr gut, worum es bei Zero Waste geht: Als Objekt selbst ist es interessant, weil es die umwelt- und gesundheitsschädlichen Plastikbehälter ersetzt. Es ist sehr oft wiederverwendbar und für eine Vielzahl von Sachen einsetzbar. Aber davon abgesehen wird mit dem Material Glas auch sehr viel Positives assoziiert. Es fasst sich anders an. Seine Haptik suggeriert Stabilität und Sicherheit. Und dass es transparent ist, spielt sicher auch eine Rolle.

Ist das durchsichtige Einweckglas der Gegenentwurf zu den undurchsichtigen Plastik-Mogelpackungen im Supermarkt?
Ich denke, dass es darum geht, sich wieder mehr mit den Dingen und Materialien auseinanderzusetzen, die uns jeden Tag umgeben. Wir wissen heute, dass uns viele menschliche Erfindungen der Moderne nicht gutgetan haben. In der Soziologie nennen wir das Modernisierungsrisiken. Das sind Gefahren und Nebenwirkungen menschlicher Produkte und Produktionsformen, die erst im Laufe der Zeit erkennbar, spürbar und dann zum Teil unkontrollierbar werden. Begonnen hat diese Diskussion um Modernisierungsrisiken vor allem mit dem Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft und mit der Atomenergie. Am Anfang war das Gift hilfreich, um höhere Erträge zu erzielen, und die Atomenergie sinnvoll, um den steigenden Energiebedarf zu decken, ohne noch mehr Öl und Kohle auszubeuten. Aber die Strahlen und das Gift haben langfristige Nebenwirkungen für Menschen und für Tiere, die man vorher nicht erkannt hat. Solche Risiken haben in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. Auch bei Plastik wissen wir nicht, welche langfristigen Folgen das für uns und den Planeten haben wird. Mit Zero Waste schafft sich das Individuum eine Möglichkeit im Alltag, diese Risiken in gewisser Weise zu kontrollieren. Es geht dabei also nicht nur um den Abfall, sondern um Alternativen.

Wird die Welt begreifbarer, wenn ich tatsächlich nach den Dingen greife?
Ich glaube schon. Viele jüngere Menschen sehnen sich gerade danach, sich wieder stärker mit der Natur zu verbinden – oder stellen das zumindest nach außen so dar. Das kann mit Corona zusammenhängen, aber das In-der-Natur-Sein war schon vor der Pandemie sehr populär. Reisen ohne Massentourismus, Ausflüge in die Berge, Spaziergänge im Wald – Menschen wenden sich vom scheinbar „Künstlichen“ ab und suchen nach einem eigenen Bezug zur „natürlichen“ Welt. Der Klimawandel ist so bedrohlich, dass er nicht nur das Überleben des Einzelnen betrifft, sondern der ganzen Menschheit. Um trotzdem weiterhin freudvoll existieren zu können, muss diese Unsicherheit handhabbar gemacht werden. Zero Waste ist eine Möglichkeit, Komplexität zu reduzieren und Kontrolle zurückzuerlangen.

Klingt nach Biedermeier, oder?
Ohne das zu bewerten, würde ich sagen, dass an dem Vergleich etwas dran ist. Insgesamt ist die Bewegung ja ein bisschen retro. Viele der Zero-Waste-Strategien könnten von meiner Oma stammen. Auf den Blogs wird sich viel darüber ausgetauscht, wie Lebensmittel zubereitet oder verarbeitet oder Putzmittel selbst hergestellt werden können. Das ist ein Rückgriff auf eine Zeit, wo sich das Leben – insbesondere von Frauen – noch in sehr stark vorgezeichneten Bahnen bewegte.

Und plötzlich fangen junge Frauen wieder an, vormoderne Rollen einzunehmen und unglaublich viel Aufwand zu betreiben, um alles selbst herzustellen, zu kochen, zu konservieren und zu verarbeiten. Ist der Rückgriff in Bezug auf Techniken auch ein Rückschritt im Genderdiskurs?
Ein spannender Gedanke. So habe ich das selbst noch nicht gesehen. In gewisser Weise schon, weil es häufig immer noch hauptsächlich Frauen sind, die diesen Diskurs bestimmen. Aber anders als zu Großmutters Zeiten sind die Hintergründe der Zero-Waste-Praktiken meistens andere: Es geht nicht so sehr darum, eine „geschlechtsangemessene“, „typisch weibliche“ Rolle zu übernehmen, sondern vor allem um das persönliche Adressieren von ökologischen Problemen. Außerdem engagieren diese Zero-Waste-Anhängerinnen sich ja auch noch in anderen Bereichen. Sie ergreifen die Möglichkeit, in ihrem Beruf und ihrer Partnerschaft Ungleichheiten zu thematisieren. Unser heutiger Lebensentwurf ist nicht mehr so eindimensional, sondern besteht aus verschiedenen zeit-, orts- und kontextspezifischen Rollen und damit verbundenen Praktiken. Zero Waste ist für die meisten nur ein Teil des eigenen Lebensentwurfs.

Raphaela Casata
studierte Soziologie an der Universität Wien. In ihrer Masterarbeit „Die wirklich sicheren Dinge“ setzte sie sich mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf Nachhaltigkeit und Materialität auseinander. Heute ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung der Uni Passau beschäftigt.

 


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